Können und Graduierungen

Was sagen Graduierungen tatsächlich aus?

Ich bin sicher, daß sich schon viele von euch diese Frage gestellt haben. Gibt es einen zuverlässigen Maßstab, an dem sich die Graduierungen der verschiedenen Kampfsysteme messen lassen? Oder sind diese Graduierungen selbst der Maßstab?

Als Kano Jigoro das Kyu-Dan-System in sein Judo integrierte, war es seine erklärte Absicht, eine extrinsische Motivation zu schaffen, die über ein deutlich sichtbares Signal, nämlich die Gürtelfarben (anfangs nur weiß, braun und schwarz sowie violett für Jungen unter 14 Jahren), den Kenntnisstand jedes einzelnen Judoka dokumentierte.

Diese extrinsische Motivation wurde schon zu Kanos Lebzeiten oft mit militärischen Rängen verglichen und fand den Beifall der Dai Nippon Butokukai. Kanos Graduierungssystem wurde daher auf Anweisung der Butokukai in dem Versuch, Japans Kampfsysteme zu vereinheitlichen, auch anderen Schulen (wie etwa Funakoshis Karate) übergestülpt oder von diesen freiwillig übernommen …

Ich selbst glaube nicht, daß Kano sehr glücklich war mit dieser Entwicklung. Ihm ging es um ganz andere Dinge.

Man sollte sich immer wieder vergegenwärtigen, daß Kano die Vergabe von Dan-Graden nicht nur an das Bestehen einer technischen Prüfung knüpfte, sondern daß er auch festlegte, daß eine solche Vergabe von Dan-Graden nicht erfolgen dürfe, wenn der betreffende Kandidat „schwere charakterliche Mängel“ und/oder „mangelnde Reife“ aufweise.
Fragt sich nur, wie man das handhabt, ohne dabei Willkür walten zu lassen …

Wahrscheinlich funktioniert das Kyu-Dan-System nur dann, wenn man die eigenen Schüler so weit erzogen hat, daß sie Graduierungen als das sehen, was sie sind: Zeichen dafür, wieviele Stufen man auf der endlosen Wendeltreppe des Judo schon erklommen hat. Wenn man Graduierungen so nüchtern sieht, sind sie auch nicht geeignet, die eigene Eitelkeit zu befeuern.

Ebenso nüchtern sollte man auch registrieren, daß Graduierungen nur innerhalb eines bestimmten Bezugssystems einen Wert besitzen. Eine Graduierung im Judo hat bspw. keinerlei Bedeutung im Boxen oder im Muay Thai. Ein Dan-Grad im Karate (gleich welcher Schule) dürfte im BJJ nicht von Interesse sein. Somit relativiert sich der Wert einer solchen Graduierung dann doch beträchtlich.

Graduierungen in Kampfsystemen, dargestellt und verdeutlicht durch farbige Gürtel, sind eine relativ neue Erfindung. Kano schuf sie als Motivationshilfe und als Teil eines Ausbildungsziels mit höherem Anspruch, gedacht für den Massenunterricht, den es vor der Meji-Epoche so nicht gab.

Inzwischen aber wurde Kanos Absicht meiner Meinung nach gründlich mißverstanden und ebenso pervertiert.
Heute geht es oft nicht mehr darum, daß hinter einer bestimmten Gürtelfarbe tatsächlich ein jederzeit abrufbereites, ganz konkretes Wissen und Können steht. Heute stehen vielmehr der Spaß, die schnelle Befriedigung des eigenen Ego und die daraus resultierende Jagd nach dem nächsten Gürtel im Vordergrund.

Ich finde es überdies erstaunlich, daß man dabei versucht, das Lernen, also den Erwerb von Wissen und Können, zu nivellieren. In vielen Organisationen gibt es Wartezeiten, die den Erwerb der nächsten Graduierung penibel regeln. Meiner Meinung nach ist das absurd. Es wird immer jene geben, die langsam lernen und nur langsam besser werden und jene, die sehr schnell lernen und ihre Fähigkeiten schnell verbessern können.

Legt man den Erwerb von Graduierungen nun per Dekret fest und bestimmt man Wartezeiten, die unbedingt einzuhalten sind, trägt das meiner Meinung nach nicht dazu bei, talentierte Sportler zu motivieren. So gesehen werden Graduierungen dann möglicherweise zum Gegenteil dessen, was Kano Jigoro einst beabsichtigt hatte.

Und eine weitere Frage sollte man sich stellen, wenn man über Graduierungen nachdenkt… Wer vergibt denn diese Grade? Und mit welchem Recht? Ist es tatsächlich immer so, daß derjenige, der da als Prüfer agiert, die entsprechenden Lehrinhalte auch selbst verinnerlicht hat? Prüft da wirklich immer jemand, der selbst kämpfen kann…?

Sind nur die Graduierungen, die ein großer, mitgliederstarker Verband vergibt, seriös? Falls ja – wie war das denn, bevor diese großen Verbände entstanden?

Ist es nicht eher so, wie ich bereits sagte – daß nämlich Graduierungen nur und ausschließlich innerhalb eines bestimmten Bezugssystems von Wert sind, weil sie nur dort etwas aussagen? Wenn das so ist, und davon gehe ich aus, dann erübrigt sich jede Diskussion darüber, welche Graduierungen „offiziell“ und „seriös“ sind und welche (angeblich) nicht.

Je länger ich über Graduierungen in den Kampfkünsten nachdenke, desto klarer wird mir, daß sie schlicht und einfach überflüssig sind. Ich habe das früher ganz anders gesehen. Ich habe mir eingeredet, daß das Kyu-Dan-System eine unverzichtbare Tradition sei und man nur mit diesem System ein permanentes Wachstum im Judo gewährleisten könne…

Ich habe mich geirrt.

Graduierungen bedeuten in Wahrheit gar nichts. Sie sind Symbole unserer Eitelkeit, Hindernisse auf dem Weg. Es dauert allerdings recht lange, bis man das begriffen hat…

Wer wirklich kämpfen lernen will, dem sind farbige Gürtel ohnehin gleichgültig. Wer solche Abzeichen benötigt, um sich zum regelmäßigen Training zu motivieren, der sollte sich daran erinnern, daß es sehr viele Kampfsysteme gibt, die keine solchen Graduierungen beinhalten. Und dort wird ja trotzdem fleißig trainiert …

Ich graduiere meine Schüler dennoch. Aus guter, alter Tradition und aus Bequemlichkeit. Weil Kano nun einmal das Kyu-Dan-System ins Judo eingebracht hat. Und weil ich so auf einen Blick sehen kann – auch wenn ich vor einer recht großen Gruppe stehe – bei wem ich bereits dies und jenes voraussetzen kann und bei wem noch nicht.

Dafür sind farbige Gürtel wirklich gut geeignet. Aber darüber hinaus sind sie völlig überflüssig und unwichtig. Und in unseren No-Gi-Trainingseinheiten werden sie ja auch nicht getragen. Trotzdem wird dort nicht weniger hart geübt und gekämpft…

Ein Gedanke zu „Können und Graduierungen

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