Über Straßen, Netze und Bewegung

In dem ersten Artikel über „Das Gehirn und die Bilder“ sind wir ja auf die Bedeutung der inneren Bilder und die Vernetzung des Gehirns eingegangen.

In diesem Artikel soll jetzt die Brücke geschlagen werden zu der Verbindung zwischen körperlicher Übung, unserem „Denken“ und den verschiedenen, daran beteiligten, Gebieten unseres Gehirns.

Wenn wir über „das Gehirn“ reden muss uns klar sein dass zwar der grobe Aufbau des Gehirns bei jedem Menschen gleich ist, aber jeder von uns sein individuelles „Streckennetz“ hat. Jeder ist eine einzigartige Persönlichkeit mit einzigartigen Erfahrungen, Fähigkeiten, Problemen und Schwachstellen.

Um das zu verdeutlichen kann man sich das menschliche Gehirn einmal als den europäischen Kontinent vorstellen. Die Hirnregionen sind die Städte, Dörfer und landschaftlichen Besonderheiten. Was jetzt unsere „Persönlichkeit“ ausmacht ist das individuell unterschiedlich ausgebaute Straßennetz. Manche Orte sind bei dem Einen mit Autobahnen verbunden, bei dem Anderen nur mit Trampelfaden.

Dazu kommt das individuelle Erfahrungen und „Gewohnheiten“ dazu geführt haben das bei einigen Menschen bestimmte Verbindungen blockiert sind, z.B. durch Traumata (wobei darunter nach meiner Definition jede erfahrene Hilflosigkeit fällt), oder Krankheit.

Wenn wir über „die Motorik“ reden muss man bei dem Menschen zwischen zwei verschiedenen Arten der Motorik unterscheiden. Stark vereinfacht ist dies die sogenannte „willkürliche Motorik“ und die sogenannte „unwillkürliche Motorik“.

Erstere ist die Art der Bewegung, die unser Verstand initiiert, z.B. um eine Tasse Kaffee zu greifen oder diese Buchstaben auf der Tastatur zu tippen. Letztere dient u.a. der Körperstabilisierung.

Immer wenn ich eine Bewegung willentlich ausführe „sagt“ mein Verstand einer Region weiter „hinten“ in der Großhirnrinde welches Bewegungsprogramm sie jetzt bitte abrufen solle. Als nächstes „bespricht“ diese Region dann diesen Wunsch mit einer Abteilung unterhalb der Großhirnrinde, den Basalganglien.

Dieser Teil des Gehirns stellt eine sehr wichtige Schaltstelle zwischen „unserem Verstand“ und dem Rest des Gehirns dar, denn er ist mit vielen Gehirnteilen verbunden und in viele Gehirnprozesse eingebunden.

Er ist ein wichtiger Teil des „emotionalen Systems“ (und ist somit auch eingebunden in das Erleben und verarbeiten von Emotionen und dem Lernen) und hat Verbindungen zum Hirnstamm wo überlebensnotwendige Körperfunktionen gesteuert werden.

Haben die Basalganglien jetzt den Wunsch des Verstandes empfangen und mit der emotionalen Abteilung besprochen/abgeglichen, werden noch Details mit dem Hirnstamm (und darüber mit dem Kleinhirn, dazu aber später mehr) abgeglichen und dann wird das Ergebnis dieser „Konferenz der Instinkte“ an den Verstand zurückgemeldet. Vorher muss dieses Ergebnis aber noch in einer weiteren Konferenz modifiziert werden. Dem Thalamus.

Dort sitzen die Führungsgremien verschiedener Abteilungen des Körpers, wie z.B. des Gedächtnisses, der Körpereigenwahrnehmung, des Hörens, des Sehens, und der unwillkürlichen Motorik.

Diese Führungsabteilung bespricht dann das Anliegen weiter, passt es an und sendet dann das Ergebnis in Kopie an den Verstand und gibt die Befehle an die ausführenden Organe der Großhirnrinde wo die entsprechenden Muskelbefehle dann erteilt werden.

Das Kommandozentrum unserer unwillkürlichen Motorik, die ja u. a. dazu dient dass wir nicht umfallen und unsere Körperspannung halten, liegt im Kleinhirn. Diese Hirnregion befindet sich „hinten“ unterhalb unseres Großhirns und sieht aus wie zwei, an den Hirnstamm geklebte, Walnüsse. Es macht nur ein Zehntel des Gewichts unseres Gehirns aus, beinhaltet aber 4/5 aller Hirnzellen. Alleine an dieser Verteilung kann man sehen wie wichtig dieses Gehirnareal auch für uns Menschen ist.

Im Kleinhirn laufen alle Informationen des Bewegungsapparates zusammen. Dort kommen die Informationen über den Spannungszustand der Muskeln und Sehnen an, die Informationen über die Stellung der Gelenke und Informationen aus dem Gleichgewichtsorgan des Kopfes.

Gleichzeitig werden die Muskelbefehle der Großhirnrinde in Kopie dort in Echtzeit registriert und verschieden Informationen aus dem Hirnstamm verarbeitet.

Dieses Kommandozentrum hat Mitteilungskanäle zum Thalamus wo seine Informationen an das Großhirn weitergeleitet werden und wo mit Hilfe dieser Informationen willentliche motorische Befehle ausgearbeitet werden. Es hat jedoch auch Kanäle zum Hirnstamm, und damit direkt zur Muskulatur, um schnell und instinktiv auf Situationen reagieren zu können indem es den Körper reflexartig bewegt, oder unbewusst „austariert“.

Wie wir gesehen haben ist der Hirnstamm ebenfalls in alle Prozesse involviert. Das ist auch absolut logisch, denn er ist der älteste und wichtigste Teil unseres Gehirns. Hier werden Dinge wie unsere Atmung und der Herzschlag reguliert, hier laufen alle Informationen über unseren Körperzustand zusammen, hier tauscht sich das Kleinhirn mit den Augen, den Ohren und dem Gleichgewichtssinn aus, hier wird die Atem- und Schluckmuskulatur gesteuert und unsere Augenmuskeln koordiniert. Hier wird unser emotionales Erleben mit all den o. g. Funktionen abgestimmt.

Der Hirnstamm kann seine gewichtige Meinung über verschiedene Kanäle dem Verstand mitteilen. Er sitzt in der Führungsebene des Thalamus, beeinflusst die Schaltstelle der Basalganglien und hat einen ständigen Sitz in der Kommandozentrale des Kleinhirns. Seine Befehle gehen direkt an die Muskeln und Eingeweide und seine Meinung ist für den Verstand bindend.

Wenn der Hirnstamm der Meinung ist dass der Verstand eine Situation nicht schnell genug lösen kann, dann übernimmt er selber die Kontrolle und setzt den Verstand auf die „Auswechselbank“. Er ist das Instinktzentrum von dem ich in dem Artikel über das Gehirn und die Bilder gesprochen habe, als es um den Tiger und „Fight, Flight, Freeze“ ging. Er ist es auch der die Wachheit und Aufmerksamkeit steuert.

Wir haben also unseren Verstand, die Schaltstelle der Basalganglien, die Kommandozentrale des Kleinhirns, die emotionalen Zentren, das Gedächtnis, die Führungsabteilung des Thalamus und den alles verbindende Hirnstamm als Überlebensinstanz. Dies sind die großen Städte auf der Landkarte des Gehirns.

All diese Städte sind miteinander verbunden und haben natürlich auch alle selber ein Straßennetz. Wir haben ja schon dargelegt das unser Gehirn permanent dieses Straßennetz ausbaut und auch wieder zurückbaut, je nach Bedarf. Es ist, in dieser Beziehung, wie ein Muskel: Was man oft nutzt wird größer und stärker.

Anhand der Verteilung der Nervenzellen im Gehirn kann man sehen dass unserem motorischen System eine sehr große und gewichtige Rolle zu kommt (wir erinnern uns: 4/5 aller Hirnzellen!). Dies macht natürlich auch Sinn, da wir uns in unserer Umwelt permanent bewegen und mit ihr interagieren müssen. Uns wird jedoch nur ein sehr kleiner Teil der Informationen aus unseren Muskeln, Knochen und Sehnen an den Verstand zurückgemeldet, d.h. wir nehmen nur einen sehr kleinen Teil unserer Körperinformationen bewusst war.

Man kann sich dies am ehesten wie mit einem Computer vorstellen. Wir müssen nicht den Programmcode des Betriebssystems kennen oder den des Browsers mit dem wir diese Zeilen lesen. Wir müssen nicht die Prozessorarchitektur kennen mit dem der Computer angetrieben wird und auch nicht all die Stationen mit denen die Informationen dieser Webseite auf ihren Bildschirm gelangen, geschweige denn deren inneren Aufbau.

Wichtig sind die Informationen auf dem Bildschirm, mit ihnen arbeiten wir. Genauso ist es mit unserem Verstand. Er muss nicht alle Informationen kennen, er muss nur mit den Ergebnissen dieser Informationen arbeiten.

Unser Körper hat sehr viele Möglichkeiten auf unterbewusster Ebene unser motorisches System zu beeinflussen. Aus unseren emotionalen Zentren treffen permanent Erregungen in den unwillkürlichen Schaltzentren, z.B. im Hirnstamm, ein. Unsere Basalganglien unterliegen auch permanent Doppel- und Dreifachbelastungen, da sie Emotionen, Verstand und Lernen gerecht werden müssen und dazu noch dem Hirnstamm und dem Thalamus Bericht erstatten müssen, während sie auch eine gewichtige Rolle in der Ausführung von Bewegungen spielen. Von all diesen, unter der Oberfläche ablaufenden, Vorgängen bekommen wir nichts mit, da „wir“ mit „wichtigeren“ Dingen beschäftigt sind (z.B. diesen Text lesen oder Kaffeetrinken).

Jetzt sind unsere Straßennetze im Gehirn aber nicht überall gleich gut entwickelt. Es gibt, auf Grund unserer Erfahrungen, Engstellen, Sackgassen, Autobahnen und Trampelpfade. Insbesondere die Straßen unserer Körpereigenwahrnehmung sind oft sehr dürftig ausgebaut, eben weil unser Körper sehr viel instinktiv macht und wir unser Gehirn für andere Dinge nutzen, als uns bewusst (achtsam) zu bewegen. Durch ein permanentes Dauerfeuer aus den emotionalen Zentren und den Ansprüchen unseres Verstandes gehen die Informationen aus unserem Körper oft unter und finden keine Beachtung. Der Hirnstamm und das Kleinhirn steuern die Muskelspannung autonom und „belästigen“ den Verstand nicht mit genaueren Einzelheiten. Der Preis dafür ist jedoch ein Zurückbauen des entsprechenden Straßennetzes.

Über den Einsatz von Bilder zur Bewegungssteuerung nutze ich nun sehr viele Straßen in meinem Gehirn gleichzeitig, insbesondere dann, wenn ich versuche alle Teile meines Körpers wahrzunehmen und harmonisch zu bewegen. Ich will dann z. B. nicht nur meine Arme anheben, sondern ich möchte ein Gefühl an meinem ganzen Körper erzeugen, als ob ich unter Wasser stehe und der Auftrieb des Wassers meine Arme nach oben bewegt, während mein ganzer Körper durch die Eigenbewegung des Wassers bewegt wird und sich austarieren muss.

Eine Idee ermöglicht mir auf die sonst unbewussten Informationen der Körperspannung zuzugreifen und diese mit Hilfe von dazugehörigen Bildern zu verändern und anzupassen, indem ich mich bewusst und sehr diffizil und fein abgestuft bewege. Da man die Straßen am besten ausbaut wenn man sie oft benutzt sollte dies mit einer hohen Wiederholungsrate geschehen.

Durch das Nutzen von Bildern und Bewegung, die die Körpereigenwahrnehmung verbessert, baue ich mein Straßennetz zwischen den Städten aus, aber auch innerhalb der Städte. Ich verbessere meine gesamte Infrastruktur des Gehirns. Eine Idee/Bild erregt durch das Straßennetz alle Städte, und deren Straßen, im Gehirn. Aus dem All, bei Dunkelheit betrachtet, würden alle Straßen Europas, durch die auf ihnen fahrenden Autos, leuchten.

Jetzt gibt es das Phänomen der „kombinierten Erregungsmuster“. Wenn ich durch eine Idee eine bestimmte Anzahl an Dörfern und Städten zum Leuchten bringe, also das Straßennetz dorthin nutze, dann baue ich diese Straßen aus. Wenn ich jetzt eine andere Idee nehme, die ebenfalls ein bestimmtes Straßennetz zum Leuchten bringt, und sie mit der vorherigen Idee koppele, dann leuchten auf einmal deutlich mehr Straßen und werden so besser ausgebaut. Ich habe das Netz erweitert. Letztendlich ist es dann egal in welcher Stadt die Idee entsteht, durch das Straßennetz breitet sie sich auf allen Wegen aus und erreicht alle angeschlossenen Dörfer und Städte.

Durch diese kombinierten Erregungsmuster erhalten auf einmal Gehirnregionen Anschluss an das Straßennetz die ich evtl. vorher nicht, oder nur mit Mühe, erreichen konnte. Je besser die Infrastruktur desto effektiver die Transportwege.

Das Ziel des Trainings in den chinesischen Kampfkünsten ist es ein möglichst gut ausgebautes Straßennetz zu bekommen. Zwischen den Städten und in den Städten und Dörfern des Gehirns. Dadurch kann ich versuchen das gesamte Potential des menschlichen Geistes zu nutzen und mich zu entwickeln.

Die Arbeit mit den Muskeln des Körpers spielt dabei eine große Rolle, da das motorische System an vielen Stellen des Körpers beeinflusst wird und man über die Arbeit damit viele Straßennetze und Städte des Gehirns erreichen kann.

Wie wir in dem Artikel über die Didaktik schon geschrieben haben sind die kämpferischen Anwendungen ein wichtiges Werkzeug, aber auch die Methode des „Stehens“ spielt eine wichtige Rolle. Man kann bestimmte Dinge im Körper besser wahrnehmen und beeinflussen, wenn man keine „Ablenkung“ durch einen Gegner hat, sondern sich zunächst auf sich, seine Muskeln und seine Wahrnehmung konzentrieren kann. Erst ohne sich im Raum zu bewegen, dann auch mit Bewegung im Raum und zuletzt in Koordination mit dem Gegner.

Mit wachsendem Ausbau unseres Straßennetzes wächst dann die Qualität unserer Eigenwahrnehmung und die Möglichkeit unserer Körperkontrolle. Durch das Herausarbeiten von essentiellen Prinzipien und das Anwenden dieser, erhöhen wir stetig den koordinierten Verkehr auf unserer Infrastruktur und verbessern den Verkehrsfluss. Wir beseitigen Engstellen und bauen kontinuierlich die Straßen aus.

Dadurch halten wir permanent die Anforderungen an uns hoch und verbessern uns immer weiter. Im Idealfall läuft der Verkehr jederzeit ungehindert und reibungslos, während wir parallel an dem Ausbau des Netzes arbeiten. Dann befinden wir uns im Zustand des sogenannten „Flows“.

Wenn wir es schaffen diesen Zustand aufrecht zu halten, werden wir nicht so leicht in dem Zustand des „Freeze“ gefangen oder in „Flight“ gehen, wenn wir mit einem Problem konfrontiert werden. Auf der anderen Seite wird uns im Training aber auch nicht langweilig, da wir ja permanent unser Straßennetz erweitern, indem wir neue Ideen nutzen und immer neue Erregungsmuster kombinieren.

Da diese Ideen und Straßen aber nicht nur auf die motorischen Areale beschränkt sind, sondern ihren Ursprung in unserem Verstand haben, und auch unsere Emotionen und Erfahrungen mit einbeziehen, wachsen wir als gesamte Persönlichkeit und profitieren auf allen Ebenen von dem Training. Bis auf einmal alles Training wird und die verbindenden Elemente sichtbar werden…