Über die Kampfkunstfamilie

Zuletzt habe ich an dieser Stelle etwas über den Lehrer in den Kampfkünsten und „Shu-Ha-Ri“ geschrieben. Heute möchte ich etwas über die Wissensvermittlung durch den Lehrer schreiben.

Ein Lehrer lebt „sein Karate“. In allem was er tut spiegelt sich, im Idealfall, das wieder, was ich unter „Karate“ verstehe. Eine Lebenseinstellung, einen „way of life“. Die technische und körperliche Seite des Karate ist da nur ein Teil davon, die innere Einstellung zu sich selber und seinen Mitmenschen ein anderer.
Was passiert wenn ich als Schüler zum Training in mein Dojo gehe? Ich treffe meinen Lehrer, ich komme in direkten menschlichen Kontakt mit ihm. Ich lerne von ihm die korrekten Bewegungen, er treibt mich an, er fordert mich, er gibt mir Hilfestellungen.

Bei einem Trainingspensum von 10 Stunden pro Woche (und so viel braucht man in den ersten 4-6 Jahren mindestens um umfassend Karate auf der Shu-Stufe zu lernen) ist der Lehrer eben mehr als nur ein „Trainer“. Ein Trainer sieht 10-20 Schüler für 1-2 Stunden die Woche. Ein Lehrer sieht seine 4-8 Schüler für mindestens 10 Stunden die Woche.
Der Lehrer lebt etwas vor. Er lehrt durch sein Beispiel. Im wahrsten Sinne des Wortes „prägt“ er seine Schüler. Bei so viel gemeinsamer Zeit tauscht man sich eben auch über alltägliche Dinge aus, lernt sich kennen und steht einander bei, auch bei privaten Problemen.

In den chinesischen Kampfkünsten haben Anreden einen familiären Bezug (Vater-Lehrer, Großvater-Lehrer), was diese enge Bindung zeigt. Man wird „eine Familie“ bei der man von den „Älteren“ lernt. Ein Lehrer erzieht seine Schüler, wie er seine Kinder erzieht. Er möchte ihnen seine Erfahrungen und seine Fähigkeiten weitergeben.
Anders als bei einer Familie ist dieses „Band“ jedoch freiwillig. Es ist die Entscheidung des Schülers, ob er einen „Vater-Lehrer“ akzeptiert, der ihn in der Kampfkunst „erzieht“, genauso wie es eine Entscheidung des Lehrers ist, ob er einen „Schüler-Sohn“ adoptiert.

Warum ist diese sprachlicher Exkurs so wichtig?
Es zeigt die Art und Weise, wie in einer Kampfkunst traditionell unterrichtet wird. Ein Lehrer ist eben nicht ein „Trainer“, der die oberflächlichen Bewegungen im Massenunterricht vorturnt. Er ist auch kein „Lehrer“ wie wir ihn aus der Schule kennen, wo 20-30 Schüler auf einmal unterrichtet werden.
Ein Lehrer ist eher ein „Kampfkunstfamilienoberhaupt“, ein „Kampfkunstvater“, der seine Kinder erzieht. In dieser „Kampfkunstfamilie“ achten, wie in einer echten „Großfamilie“, die Älteren auf die Jüngeren, geben ihnen Hilfestellung und „erziehen“ sie indem sie durch ihr Verhalten Vorbild sind.
In den chinesischen und japanischen Familien herrscht(e) das konfuzianische Familienbild mit einer sehr strikten und strengen Familienhierarchie, die uns heutigen Westlern eher „fremd“ anmutet. Das hat jedoch nichts mit „Sekte“ zu tun, sondern mit der damaligen Gesellschaft.

Der Wissenstransfer innerhalb einer solchen „Kampfkunstfamilie“ findet durch den direkten, täglichen, persönlichen Kontakt mit den anderen „Familienmitgliedern“ statt. Wie in einer Familie steht man füreinander ein, hilft einander und streitet miteinander. Man wächst sich „ans Herz“. Der Lehrer (Vater-Lehrer) ist dann in einer solchen Familie die schlichtende und leitende Instanz, wie in einer ganz normalen Familie auch (OK, OK, natürlich ist es heute eigentlich die Mutter, bzw. Ehefrau, aber bleiben wir mal bei der klassischen konfuzianischen Familie).

Wenn man einmal in einer solchen intakten Familie „drin“ ist und täglich vom Lehrer und den älteren Schülern korrigiert wird, dann findet natürlich eine ganz ganz andere Art der Wissensvermittlung statt, als wenn man ein oder zwei mal pro Woche „zu Besuch“ kommt und mittrainieren will. In einer Stunde, alle paar Tage, kann man einfach nicht das lernen, was die „Familienmitglieder“ lernen, die jeden Tag zwei Stunden trainieren. Was ein „Familienmitglied“ an einem Tag lernt, das lernt das „Nichtfamilienmitglied“ in einer Woche. In einer Woche lernt der „Schüler-Sohn“ also mehr, als der Andere in zwei Monaten, da der „Fähigkeitentransfer“ nicht linear sondern exponentiell ist (bei linear wäre es nur gut ein Monat).
Der Schüler profitiert von der engen Bindung an den Lehrer durch den schnellen Erwerb der körperlichen Fähigkeiten. Damit das jedoch funktioniert muss der Lehrer auch genug Wissen zur Weitergabe haben! Wenn der Lehrer selber nicht aus einer intakten „Kampfkunstfamilie“ kommt, wo er durch ein solches System unterrichtet wurde (wie sein „Vater-Lehrer“ zuvor), dann kann er auch nicht das Wissen vermitteln. Wie wir gesehen haben ist einfach viel Zeit nötig den „Kampfkunstkörper“ zu entwickeln. Nur dann hat man die Shu-Stufe abgeschlossen.

Wenn man das erreicht hat wird einem der Lehrer die Erlaubnis geben selber Schüler zu unterrichten. Es ist so als ob einer der Söhne jetzt erwachsen geworden ist und selber eine Familie gründet. Aus dem „Vater-Lehrer“ ist ein „Großvater-Lehrer“ geworden, aus dem „Schüler-Sohn“ ein „Vater-Lehrer“.

Der Schüler-Sohn, der mit dem eigenen Unterricht jetzt in die Ha-Stufe eingetreten ist, lebt aber immer noch unter dem Dach des eigenen Vaters, kann ihn fragen wenn er sich mal unsicher ist, kann ihn bitten mal auf seine Kinder aufzupassen.
Als Vater zweier wundervoller Kinder mit meinen eigenen Eltern in derselben Stadt kann ich sagen wie hilfreich das ist! Natürlich erziehe ich meine Kinder nach meinen Vorstellungen und meine Eltern akzeptieren und respektieren das auch, dennoch stehen sie mit Rat und Tat zur Seite und erziehen meine Kinder auch wenn diese bei ihnen sind.

Der „Großvater-Lehrer“ wird sich also nicht in die Erziehung seiner „Enkel-Schüler“ einmischen, das ist Aufgabe deren „Vater-Lehrers“, aber er wird sie natürlich „erziehen“ wenn die Enkel mal bei ihm trainieren.
Der frischgebackene „Vater-Lehrer“ wird in seine Rolle als Vater hineinwachsen, wird Fehler machen aber sich dennoch immer weiter entwickeln. Kinder sind unglaublich gute Lehrmeister. Da der „Großvater-Lehrer“ natürlich all das schon gesehen hat und schon eigenen Kinder großgezogen hat, wird der „Vater-Lehrer“ ihn immer mal wieder fragen und sich Ratschläge holen.

Die Erziehung der eigenen Kinder ist nichts anderes als das Durchwandern der Ha-Stufe. Wenn man einige Kinder erzogen hat, dann weiß man worauf man achten muss, ist ein „erfahrener Vater“. Man hat die „Ri-Stufe“ erreicht und kann später selber seinen Kindern bei der Kindererziehung zur Seite stehen.

Wenn man eigene Kinder hat, wird man rasch feststellen, dass man sich auf einmal fast nur noch mit anderen Familien trifft. Nicht weil man „die Singles“ nicht mag, nein, man hat keine gemeinsame Gesprächsgrundlage. Während man selber über KiTas, Pampers, Sprachentwicklung, Erziehung redet, reden Leute, die keine Kinder haben, über Parties, One-night-Stands, Kinobesuche etc.. Es ist eine ganz andere Welt (sicher man kennt sie auch noch, aber sie ist eben ganz anders).
So ist es auch mit den Kampfkünstlern aus solchen „Kampfkunstfamilien“. Man kann sich wunderbar mit anderen „Vätern“, „Großvätern“, oder „Söhnen“ austauschen, aber nicht mit Leuten, die keine Familie haben oder aus keiner intakten Familie kommen. Man wird immer aneinander vorbeireden.

Übrigens:
Kein Vater dieser Welt würde von seinen Kindern verlangen mit „Papa“ angeredet zu werden, die Kinder werden das, zumindest in einer intakten Familie, immer aus sich heraus tun, da Papa eben Papa ist, mit allem wofür „Papa“ eben steht.

In der Kampfkunstfamilie ist es ganz genauso. Der Lehrer ist für die Schüler eben der Lehrer und kein Lehrer würde von seinen Schülern verlangen mit „Vater-Lehrer“ (Sifu), oder Sensei (der Zuerstgeborene) angeredet zu werden. Nein, für die Schüler ist es ganz klar, dass dort der „Vater-Lehrer“ steht und so bezeichnen sie ihn also auch.

„Sensei“ ist kein Titel und auch keine Anrede, es ist eine innere Einstellung des Schülers!

Ein Gedanke zu „Über die Kampfkunstfamilie

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