Denk- und Bewegungsmuster als Schlüssel zum Verständnis des Jûdô

Moshe Feldenkrais sagte sinngemäß, daß wir stets dem Bilde nach handeln, das wir uns von uns selbst machen.

Darüber sollten wir gründlich nachdenken, denn dieser Satz ist der Schlüssel zum Verständnis des Jûdô.
Wie nehmen wir uns wahr? Sind wir z.B. jederzeit in der Lage, wirklich bewusst wahrzunehmen, wie wir uns bewegen?

Nein, sind wir nicht.
Denn wenn wir es wären, gäbe es weder Haltungsschäden noch die daraus resultierenden Verschleißerscheinungen unseres Körpers.

Verschleiß an den Gelenken wird stets durch muskuläre Dysbalancen verursacht, die im Laufe vieler Jahre chronisch geworden sind. Langes Sitzen in der Schule, gefolgt von langem Sitzen im Auto und im Büro, bspw. vor dem Computer, führt garantiert zu Fehlhaltungen. Diese Fehlhaltungen entwickeln sich schleichend. Die fehlgestellten, falsch belasteten und dadurch auch falsch arbeitenden Muskeln gewöhnen sich schnell an dieses Bewegungsmuster – Muskeln nämlich können lernen und passen sich an. Und dieses erlernte Bewegungsmuster wird im Gehirn abgespeichert. Damit wird es zur Gewohnheit, um es mal ganz simpel zu formulieren.

Nun geschieht etwas sehr Bemerkenswertes: wir halten dieses abgespeicherte Denk- und damit Bewegungsmuster für “normal”.

Wir fühlen uns damit vordergründig sogar “gut” und bringen Gelenkschmerzen und ähnliche Dinge nicht in Verbindung mit fehlgestellten Gelenken, die durch falsch arbeitende Muskeln in diese Fehlstellung gezwungen wurden. Kurz, wir nehmen einfach nicht wahr, dass und vor allem wie wir unseren Körper missbrauchen.

Schmerzen – also die Symptome – bekämpfen wir, indem wir entweder Schmerzmittel einnehmen oder einen Orthopäden an der Stelle herumfuhrwerken lassen, an der die Schmerzen auftreten. Und dann wundern wir uns, dass es nicht besser wird.

Wir haben ein kartesianisches Bild unseres Körpers gespeichert – wir betrachten den Körper als Maschine, die bei Fehlfunktionen repariert wird. Unserem Auto widmen wir wesentlich mehr Sorgfalt als unserem Körper und finden das auch noch normal.

Wir haben nicht gelernt, uns selbst wahrzunehmen, und jene, die das nicht glauben wollen, sind unangenehm überrascht, wenn man es ihnen beweisen kann (was im Übrigen nicht schwer ist). Könnten wir uns nämlich wirklich selbst wahrnehmen, dann wären wir problemlos in der Lage, alle möglichen Bewegungen sofort nachzuahmen.

Wir wären dann in der Lage, erstens unsere Bewegungs- und Denkmuster so zu organisieren, dass wir die vorgegebene Bewegung ohne Schwierigkeiten nachvollziehen könnten, und zweitens gäbe es auch in der konkreten Ausführung keinerlei Probleme. Wir hätten keine Blockaden in unseren Muskeln und Gelenken zu verzeichnen …

Wie wir alle wissen, sieht die Wirklichkeit anders aus. Wer, bitte, ist denn fähig, eine Jûdô-Technik auf Anhieb zu verstehen, nachzumachen und anzuwenden? Eben.

Das wiederum hat sehr viel damit zu tun, wie wir unser Denken organisieren. Richtig: organisieren. Die Fähigkeit der Selbstorganisation steht in Wechselwirkung mit unseren Denkprozessen, und diese wiederum bedingen unsere Bewegungsmuster. Als Jûdôka, vor allem als Schwarzgurt, sollte man das wissen, denke ich.

Warum sind eigentlich Kämpfer, die zwar über gewaltige und extrem leistungsfähige Muskeln verfügen, aber Probleme mit ihrer Selbstwahrnehmung haben, so limitiert?
Warum gibt es eigentlich so wenige Kämpfer, die wirklich geschmeidig sind?
Warum gibt es so wenige Kämpfer, die mit einem absoluten Minimum an Aufwand ihre Aktionen durchführen und trotzdem gewinnen?
Wieso gibt es kaum noch Jûdôka, die (wie die alten japanischen Meister) der obersten Maxime des Jûdô, nämlich dem Grundsatz des Seiryoku Zenyo zu folgen vermögen?
(Seiryoku Zenyo = minimaler Aufwand bei maximalem Nutzen durch perfektes Ausnutzen der dem Menschen eigenen, begrenzten Energie).

Warum also – um es auf den Punkt zu bringen – agieren die allermeisten Kämpfer immer so ruckartig, ruppig, übermäßig kraftbetont, hastig und vor allem unflexibel und steif?

Wir alle wissen, daß auf diese Weise immer der gewinnt, der mehr Kraft hat als sein Gegner. Zumindest im Jûdô widerspricht das dem vom Gründer formulierten Grundgedanken.

Wie also kann man das ändern? Nun, wir müßten zunächst einmal lernen, zu lernen. Wie bitte? Doch, doch, richtig gelesen. Wir haben nicht wirklich gelernt, zu lernen.

Was wir in der Schule erlebt haben, zielte darauf ab, uns an die gesellschaftliche Ordnung anzupassen. Dabei wurden Ziele und Leistung von außen bestimmt, vorgegeben und auch beurteilt, und zwar ausschließlich. Individuelle, kreative Lösungen wurden dabei unterdrückt bzw. eingegrenzt. Der schulische Unterrichtsprozess ließ und lässt nichts anderes zu.

Wirkliches Lernen im Sinne von “Neuentdeckung” aber setzt voraus, daß man die Möglichkeit hat, die eigene Neugier (sofern vorhanden) auch auszuleben, und zwar durch das, was man Erkundung nennt. Erst dann kann man komplexe Muster (wie etwa Bewegungen) tatsächlich erleben und dadurch auch in ihrer Komplexität begreifen. Dabei ist es unausweichlich, dass man zu individuellen Lösungen, also zu Varianten, also zur Vielfalt gelangt.

Der Unterricht in der Schule bspw. hat das Ziel, eine nicht vom Schüler festgelegte Leistungsebene zu erreichen, die durch Lehrer, Politiker und den Zeitgeist determiniert ist. Die dabei vom Schüler erbrachte Leistung wird an diesem Ziel gemessen und unterliegt der Belohnung oder Bestrafung durch externe Autoritäten.

Lernen im eigentlichen Sinne aber braucht keine externe Autorität, um zu sinnvollen Ergebnissen zu kommen. Wir selbst sind (wenn wir uns ehrlich Rechenschaft ablegen) der einzige Maßstab für unsere Lernfortschritte.

Im Jûdô bedeutet dies, dass wir den Erwerb neuer Bewegungsmuster (oder auch effektiverer Bewegungsmuster) nur nach folgende Kriterien beurteilen können: Dienlichkeit, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit. Diese Kriterien sind individuell und sehr persönlich.

Die Urteilskompetenz einer externen Autorität ist dabei nur dann sinnvoll, wenn dem Lernenden damit geholfen wird, seinem eigenen Urteil zu vertrauen. Das, genau das ist die Aufgabe eines „Sensei“ – er ist ein Katalysator des Erkundungs- und Lernprozesses…

Ich möchte nun ein kleines Beispiel dafür anführen, warum ich weiter oben behauptet habe, dass es uns an Selbstwahrnehmung mangelt. Wenn man sich den Aufbau der Wirbelsäule vergegenwärtigt, ihre Bewegungsfunktionen, und dies in Beziehung zu einigen unserer Gewohnheiten setzt, dann kann man erkennen (wahrnehmen!), weshalb Rückenschmerzen so verbreitet sind.

Die Wirbelsäule trägt unser Gewicht und ist die zentrale Struktur unseres Körpers, wenn es um Bewegungen geht. Im Gegensatz zu dem, was viele Menschen glauben, sind nicht die Lendenwirbel die beweglichsten Teile der Wirbelsäule. Die Lendenwirbel können sich lediglich um etwa fünf bis acht Grad gegeneinander verdrehen. Das liegt an ihren besonderen Gelenkflächen.

Die Brustwirbel hingegen, obwohl mit den Rippen verbunden, ermöglichen aufgrund ihrer Form der Brustwirbelsäule eine Gesamtdrehung von bis zu 35 Grad. Durch die Form der Brustwirbelgelenke wird Rotation, Streckung, Beugung und Seitbeugung ermöglicht – und natürlich eine Kombination all dieser Bewegungen.

Die Lendenwirbelsäule ist dazu nicht in der Lage. Auch die Halswirbelsäule kann lediglich dem ersten und zweite Halswirbel eine seitliche Drehung ermöglichen. Die anderen Halswirbel erlauben eine Drehung nur in Verbindung mit einer Seitneigung.

Das bedeutet, daß man das vollständige Potential für Sehen, Greifen, Balancieren und Fortbewegen nur dann nutzen kann, wenn man es der Brustwirbelsäule ermöglicht, sich frei zu bewegen. Das wiederum überrascht die meisten Menschen, die ihre Brust gewöhnlich als steif und ziemlich unbeweglich wahrnehmen.

Drehbewegungen der gesamten Wirbelsäule sind immer mit Seitenneigung und Extension verbunden, und nur so kann man diese Bewegungen auch effektiv einsetzen. Um aber die gesamte Wirbelsäule so bewegen zu können, muss ihr beweglichster Teil, nämlich die Brustwirbelsäule, von Blockaden frei sein (auch von Wahrnehmungs- und Denkblockaden!). Wir müssen unsere Brustwirbelsäule entlasten.

Warum können wir das nicht? Ganz einfach. Weil wir durch unsere Erziehung ein Denkmuster angenommen haben, welches unweigerlich zu Rückenbeschwerden führen muss: wir strengen uns an.

Das tun wir deshalb, weil wir glauben, daß Anstrengung die Ergebnisse unseres Handelns verbessern könnte. Wir sind also erstens zielfixiert und zweitens tun wir stets unser Bestes, um Erfolg zu haben – wir strengen uns an. Das ist gesellschaftlich erwünscht. Wir haben es von unseren Eltern und in der Schule gehört, wieder und wieder: streng dich gefälligst an! Es hat sich so in unser Denken eingeprägt, dass wir es für absolut normal halten, uns anzustrengen. Immer.

Was aber geschieht eigentlich, wenn wir uns anstrengen? Wieso denkt niemand darüber nach? Tja, wie gesagt – Wahrnehmung.

Wenn wir uns anstrengen, dann spüren wir etwas, das wir Anspannung nennen. Und genau das ist es auch. Es ist Muskelspannung, erhöhter Tonus. Wir glauben, dass uns dies hilft, die anstehende Aufgabe besser zu bewältigen. Nichts könnte falscher sein als das.

Sobald uns diese Empfindung des erhöhten Muskeltonus zu einem vertrauten Gefühl geworden ist (und das geschieht schon in der Kindheit), wenden wir sie auf alle Bereiche des Lebens an. Wir reißen uns zusammen – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Muskeln verkürzen sich – erhöhter Tonus also, wie gesagt.
(Hier möchte ich eilig einfügen, daß diese „Verkürzung“ nur ein Bild ist, mit dem ich plastisch zu beschreiben versuche, was da mit den Muskeln geschieht. Selbstverständlich können sich Muskeln nicht wirklich „verkürzen“, sie werden lediglich unflexibler. Ich möchte dennoch das umgangssprachliche und leichter faßbare Bild der „Verkürzung“ beibehalten.)

Erhöhter Muskeltonus aber – alle Jûdôka gut zuhören! – bedeutet, dass der Muskel erstens bereits verkürzt ist, noch bevor wir uns überhaupt bewegen, und zweitens nun noch mehr Kraft, noch mehr Anstrengung aufgewendet werden muß, um überhaupt eine Bewegung auszuführen, um die von uns selbst verursachte Steifheit zu überwinden.

Das überrascht uns (falls es uns jemals bewußt wird), da wir doch glauben, uns besondere Mühe zu geben, während wir in Wahrheit die eigenen Handlungsabläufe wirksam behindert haben. Die durch unsere Anstrengung erhöhte Spannung ist nichts anderes als eben das: erhöhte Spannung. Sie trägt in keiner Weise zu einer Verbesserung unserer Koordination oder unseres Könnens bei. Das Gegenteil ist bedauerlicherweise der Fall: erhöhte Spannung, erhöhter Muskeltonus weist auf mangelndes Können hin.

Die Tätigkeit der Muskeln wird vom Gehirn (Denkmuster!) so koordiniert, dass erhöhte Spannung zwei Wirkungen hat – erstens werden die Muskeln verkürzt und zweitens versteifen sich genau dadurch die Gelenke. Man ist also weniger beweglich, und darunter leidet die Präzision der Bewegung.

Kommt das den Wettkämpfern unter euch vertraut vor? Falls nicht – beobachtet doch mal, was geschieht, bevor ihr zu kämpfen beginnt. Ihr duckt euch zusammen, zieht den Hals ein, beugt euren Oberkörper, winkelt die Arme an, beugt die Beine (“Ringerhaltung“) – was ist das, wenn nicht eine Erhöhung des gesamten Muskeltonus? Und dann – dann strengt ihr euch an, aus dieser verkrampften Haltung heraus eure Fassart durchzusetzen, um danach mit großer Anstrengung (!) den Gegner auszuheben und zu werfen.

Anstrengung führt stets dazu, dass sich die gesamte Wirbelsäule verkürzt (dies geschieht durch die Verkürzung der Skelettmuskeln) – und dadurch versteift sich ihr beweglichster Teil, nämlich die Brustwirbelsäule. Das wiederum vermindert das Atemvolumen…

Nun sind aber die gleichen Muskeln, welche unsere Wirbelsäule verkürzen, auch in einem differenzierten Bewegungsmuster verantwortlich für unsere Drehung um die Längsachse. Werden sie schon benutzt, nämlich bei der Verkürzung durch Anspannung, ermöglichen sie nur noch begrenzte Drehbewegungen.
Gleichzeitig erhöht sich bei Anstrengung durch die vorstehend beschriebene Verkürzung (also das Zusammenziehen) der Muskeln der Druck auf die Bandscheiben.

Die Versteifung der Brustwirbelsäule führt nun dazu, daß man versucht, sich im Bereich der Lendenwirbel zu drehen. Das wiederum schädigt die bereits stark unter Druck stehenden Bandscheiben. Da die Lendenwirbelsäule sich nicht für Drehbewegungen eignet, erzeugen wir beim Versuch, uns dort zu drehen (um die mangelnde Beweglichkeit der Brustwirbelsäule auszugleichen), Schubkräfte, die auf die Bandscheiben verheerende Wirkung haben.

Die erhöhte Spannung, die wir durch Anstrengung in beinahe allen Muskeln unseres Körpers erzeugen (oft, ohne das überhaupt wahrzunehmen!), führt auch zu erhöhtem Tonus in den Bauchreflexoren. Diese wiederum fixieren dadurch die sieben unteren Rippen, die dann nicht gegeneinander gleiten können. Das verhindert zuverlässig das Drehen der Brustwirbelsäule und beugt zugleich die Lendenwirbelsäule, vor allem den vierten und fünften Lendenwirbel.

Dies belastet nicht nur übermäßig die Bandscheiben, es führt auch zu einer weiteren Verminderung der Atembewegungen. Rückenschmerzen sind die unausweichliche Folge.

Interessant dabei vielleicht noch, dass all dies sozusagen ein “Dauerkrafttraining” für die betroffene Muskulatur ist. Die fehlgestellten, verkürzten, fehlbelasteten Muskeln sind also in einem Zustand, in dem sie ständig und immer Arbeit verrichten – und dadurch werden sie natürlich kräftig, da Muskeln Anpassungsorgane sind. Das aber bedeutet, dass sie sich noch viel mehr zusammenziehen, da sie ja dauernd Arbeit verrichten müssen – selbst dann, wenn es gar nicht nötig ist.

Das führt dazu, daß wir selbst im Schlaf diese betroffene Muskulatur nicht mehr entspannen können.

Und ein dauerbelasteter Muskel produziert auch ständig Laktat… und der Körper kommt mit dem Abbau dieses Laktats nicht mehr nach.

So, und nun stellt euch bitte mal vor, was passiert, wenn jemand mit einer derartig dauerfehlbelasteten Muskulatur erzählt bekommt, er könne seine Rückenschmerzen überwinden, wenn er nur fleißig Krafttraining für die Rückenmuskeln absolvieren würde…

All diese hier aufgezählten Dinge beruhen eindeutig auf unserem Unvermögen, uns selbst wahrzunehmen. Wie ich schon sagte – es lohnt sich, darüber mal gründlich nachzudenken.

Welches Bild haben wir von uns selbst – und inwieweit stimmt dieses Bild mit der Realität überein?