Wie wichtig ist Kraft im Jûdô?

Vielleicht klingt diese Frage widersinnig.

Sie ist es aber nicht.

Kraft zu haben ist alles andere als ein Nachteil, soviel steht fest. Ich selbst bin auch lieber kräftig als schwach. Wer sehr viel Kraft hat, wird jedoch in aller Regel versuchen, diesen Vorteil im Kampf immer und in jeder Situation auszunutzen.

Und genau da sehe ich das Problem.

Wer über sehr viel Kraft verfügt, der macht sich leider nur selten die Mühe, die technischen Feinheiten bspw. der Wurftechniken wirklich zu ergründen. Er wird nicht im Sinne der von Kanô aufgestellten Maxime „Seiryoku Zen’yo“ handeln. Statt sich an die Bewegungsmuster des Gegners (sei es nun in einem sportlichen Wettkampf oder im Ernstfall) so weit wie möglich anzupassen und sie zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen, wird er – ich habe es immer und immer wieder erlebt – die sprichwörtliche Brechstange einsetzen, um den Sieg zu erringen.

Das kann funktionieren.

Und weil es gegen körperlich Schwächere sehr gut funktioniert, vor allem wenn deren Kenntnisse im Jûdô eher bescheiden sind, hält es der körperlich Stärkere für ein probates Mittel, Kämpfe durch seine Körperkraft zu seinen Gunsten zu entscheiden. Das geht so lange gut, bis er auf jemanden trifft, der ihm an Körperkraft zumindest ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ist. Sage niemand, das könne nicht passieren!

Und dann?

Das bis dahin stets siegreiche Kraftpaket hat in der Regel nicht gelernt, mit einer solchen Situation umzugehen. Wer viel Kraft hat, verlässt sich allzu oft darauf, dass er schon nicht in eine Lage kommen wird, in der ihm seine Kraft nicht mehr hilft.

Nun… ein chinesisches Sprichwort besagt, dass es immer einen noch höheren Berg gebe…

Viel Kraft zu haben, das möchte ich wiederholen, ist kein Nachteil. Sich allerdings allein auf diese körperliche Überlegenheit zu stützen wird über kurz oder lang in die Niederlage führen – es bleibt zu hoffen, dass diese dann nur in einem sportlichen Wettkampf und nicht im Ernstfall erlitten wird.

Kraft zu haben ist ein Vorteil. Aber man muss ihn auch zu nutzen verstehen!

Kanôs Maxime „Seiryoku Zen’yo“ besagt doch nicht, daß man keine Kraft haben oder einsetzen solle. Diese Maxime besagt vielmehr, daß es ein Zeichen von Intelligenz ist, die vorhandene Kraft ökonomisch, zielgerichtet und zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen!

Wer darauf hinweist, muß allerdings damit rechnen, hier und da (absichtlich?) missverstanden zu werden…

So mancher, der um seine eigenen, gravierenden technischen Schwächen im Jûdô weiß, bemüht sich hartnäckig, diese durch exzessives Krafttraining zu kompensieren. Wenngleich große Körperkraft (beim Gegner) stets ein Faktor ist, den man unbedingt berücksichtigen muss, halte ich es dennoch für einen Fehler, sich darauf zu fokussieren.

Ich weiß aber auch aus eigenem Erleben, wie groß die Versuchung sein kann, Geschmeidigkeit und saubere Technik einfach durch rohe Kraft zu ersetzen. Vor allem im Bodenkampf führt das dann dazu, daß man sich unnötig verausgabt, weil man den Erfolg über den Gegner erzwingen will.
Das aber ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll.
Es ist, wie ich sebst erleben mußte, alles andere als einfach, sich dieser Erkenntnis zu stellen.
Mir fiel es jedenfalls schwer, mein Kampfverhalten im Bodenkampf zu ändern …

Das Kanji „Jû“ bedeutet u.a. „anpassungsfähig“.

Die Wurfprinzipien des Jûdô, übernommen aus den jahrhundertealten Koryû Bugei, sind ein exzellentes Beispiel für diese Anpassungsfähigkeit. Ja, es ist mühsam, sie wirklich anwendungsbereit zu erlernen. Es kostet Schweiß, es kostet Zeit.

Es ist ein harter Prozeß, voller Mühen und Plagen. Es ist frustrierend, wenn man wieder und wieder versagt, weil man die biomechanischen Wirkmechanismen, auf denen die Wurfprinzipien beruhen, noch immer nicht vollständig internalisiert hat.

Die meisten Menschen geben nach relativ kurzer Zeit auf.

Es ist nämlich wirklich sehr viel einfacher, sich mit großer Körperkraft und immenser Anstrengung den Gegner gegen dessen heftigsten Widerstand „passend“ zu machen.

Wir alle haben in unserer Anfängerzeit so geübt und so gekämpft. Kraft war für uns das alles entscheidende Kriterium. Wir waren jung und unwissend und meinten, es genüge völlig, Würfe nach dem Prinzip des „Irgendwie“ auszuführen, solange wir nur eifrig unsere Bizeps trainierten. Wir wussten es nicht besser.

Und viele unserer Trainer wussten es auch nicht besser. Dabei hätten wir es besser wissen können, wenn wir nur zugehört und nachgedacht hätten.

Denn es gab sie ja, jene – aus unserer damaligen Sicht – „uralten“ Männer, die lächelnd jede unserer gewaltigen Anstrengungen im Randori zunichte machten. Die uns wieder und wieder ins Leere bolzen ließen, so daß wir uns durch unseren eigenen Schwung selbst warfen. Die mit winzigen, sparsamen Bewegungen jeden noch so bulligen Anriss mühelos neutralisierten.

Die irgendwann, wenn sie genug von uns hatten, eine kleine, kaum sichtbare Hüftbewegung machten und uns auf die Matte klatschten, dass uns Hören und Sehen verging. Die uns immer dann die Füße wegfegten, wenn wir glaubten, nun aber endlich besonders wuchtig und besonders rasant angerissen und eingedreht zu haben…

Die uns im Bodenkampf genauso leerlaufen ließen. Die uns immer wieder beinahe nachlässig in Würgegriffe nahmen, in denen wir so schnell das Licht ausgeknipst bekamen, dass wir uns zu fürchten begannen.

Wir trainierten hart.
Wir trainierten noch härter, wir trainierten wie die Besengten.
Wir arbeiteten an unserer Kraft, an unserer Schnelligkeit, an unserer Ausdauer.
Wir wußten es nicht besser.
Wir waren jung und blöd.

Wir haben uns nämlich nie, nicht ein einziges mal gefragt, wie diese „uralten“ Männer es denn fertigbrachten, den immerwährenden Ansturm zahlreicher junger, kräftiger Ochsen stets mühelos zu überstehen, ihn abzuwettern und ihn zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen.

Wir bolzten Liegestütze, bis wir zusammenbrachen.
Wir hoben Kugelhanteln, bis wir zitternd vor Schwäche umkippten.
Wir hingen an den Sprossenwänden und hoben die gestreckten Beine an die Stirn, bis wir mit einem Kreislaufkollaps herunterfielen. Wir hangelten Seile und Kletterstangen hoch, und unten stand der Trainer mit der Stoppuhr und verlangte mehr Anstrengung von uns.
Wir versuchten, einander im Bankdrücken zu übertrumpfen.
Wir gewannen Wettkämpfe, und das sogar auf nationaler und manchmal internationaler Ebene.

Und wir wurden im harten Randori von diesen „uralten“ Männern jedesmal gnadenlos verhauen.

Jedesmal.

Wir sahen nie, dass die irgendwelches Krafttraining machten. Aber wir dachten uns nichts dabei. Wir sahen, dass sie die Würfe der Gokyo übten – auch und gerade als Danträger.

Auch dabei dachten wir uns nichts.

Wir zerrten im Randori an den Jacken der „Senioren“, bis die Nähte knirschten. Genutzt hat es uns gar nichts. Wir wurden trotzdem geworfen, rasant und heftig. Immer wieder. Das war so, als wir 16 waren, das war so, als wir 20 wurden, das änderte sich auch nicht, als wir 25 wurden.

Und keiner von uns dachte darüber nach.

All das kommt mir wieder in den Sinn, wenn ich den einen oder anderen Judoka davon reden höre, dass er sein Krafttraining intensivieren wird, damit dieser oder jener Wurf endlich funktioniert…

Ich persönlich halte mich heute lieber an Kanôs Maxime „Seiryoku Zen’yo“ – „Maximale Wirkung bei einem Minimum an Aufwand durch perfektes Ausnutzen der dem Menschen eigenen, BEGRENZTEN Energie“.

Ich habe nichts mehr zu verschwenden…